Beim Lesen eines wirklich guten Buchs bin ich diese Tage im Kapitel über die Bedeutung und das Verständnis von Verletzlichkeit sehr zum Nachdenken gekommen. Vor einiger Zeit habe ich bereits mit dir darüber nachgesinnt, wie wichtig es ist, dass wir alle unsere persönlichen Schwächen zeigen können und dürfen und dass dies im nächsten Schritt dazu führt, dass mein persönliches Gesamtbild geformt wird.
Diese Woche, auch aufgrund meiner aktuellen Lektüre, möchte ich mit dir aber nochmals spezifischer auf Verletzlichkeit und Verwundbarkeit eingehen. Es mag gut sein, dass du an dieser Stelle nicht mehr so angetan bist, mir deine volle Aufmerksamkeit zu schenken. Ich bin ehrlich – ich verstehe dies sehr gut, weil insbesondere Verletzlichkeit sehr persönlich ist und viele Dinge hervorrufen wird, bei denen man sich nicht gut gefühlt hat oder für sich erkennen musste, dass es an dieser Stelle nicht weitergehen kann. Aber genau aus diesem Grund ist es mir umso mehr ein Anliegen, dass wir dieses Thema einmal mehr beleuchten und selbst darüber nachdenken, wo wir an diesem Punkt stehen.
Es ist ja kein Geheimnis, dass in der aktuellen Gesellschaft Verletzlichkeit durchweg den Klang von Schwäche und Erniedrigung mit sich zieht. Jeder möchte erfolgreich und gut angesehen sein, ja, meinetwegen sogar als hingebungsvoll und „Power-Mensch“ gesehen werden. Nur verletzlich sein, das will niemand. Denn dann öffnet sich der Abgrund von Fehlern, Eigenschaften, welche nicht als konform angesehen sind, oder dem, was man seinem Gegenüber nicht unmittelbar zeigen möchte.
In erster Linie geht es mir darum, dass wir anfangen, den generellen Blick auf die Verletzlichkeit zu ändern. Eben versuchen, diese genannten negativen Konnotationen zu mindern und im Gegenzug offen zu sein, was Verletzlichkeit auch bewirken kann. Denn ohne dieses Gefühl, diese Eigenschaft, so denke ich, wäre ich nicht der Mensch, der ich bin. Ich würde auf viele Dinge differenzierter reagieren und wohl niemals wagen, etwas zu tun, was mich etwas kosten kann oder von dem ich nicht weiß, wie diese Sache ausgehen wird.
Lass es mich nochmals so formulieren: Was wäre die Liebe ohne Verletzlichkeit? Ganz klar, für mich unvollkommen! Zur Liebe gehört eben auch, dass ich es wagen kann, verletzbar zu sein, indem ich dem Anderen sage, dass ich ihn sehr mag. Dass ich den Mut aufbringe, zum nächsten Bewerbungsgespräch zu gehen, obwohl ich bereits 30 Absagen erhalten habe. Dass ich einem guten Freund erneut Vertrauen zuspreche, obwohl er mich hintergangen hat. Auch, dass ich bei meiner Familie bin, wenn jemand im Sterben liegt, oder mich nicht davor scheue, meinem Kind Grenzen aufzuzeigen.
Ich könnte diese Liste noch beliebig lang weiterführen, aber ich hoffe, du verstehst meinen Punkt. Es wäre zu kurz gedacht, meine eigene Verletzlichkeit weiterhin so negativ in meinem Leben, meinem Umfeld und der Gesellschaft zu betiteln. Gerne möchte ich mit dir das folgende Zitat teilen, welches in dem besagten Buch aufgegriffen wird:
“When we were children, we used to think that when we were grown up we would no longer be vulnerable. But to grow up is to accept vulnerability. To be alive is to be vulnerable.”
Ich wünsche mir sehr, dass du spätestens an diesem Punkt ebenso wie ich verstärkt zum Nachdenken kommst. Leben bedeutet, verletzlich zu sein und damit auch Verletzlichkeit für sich zuzulassen. Es ist ein Lernprozess, den wir benötigen, um weiter unsere persönlichen Wege, Erfolge und Niederlagen anzugehen. Ich wünsche dir mehr davon und eine immer klarere Auffassungsgabe dafür, dass Verletzlichkeit am Ende ein Gewinn ist – und zwar für das gesamte Leben.
Comment
Tobi
Konnotationen = lateinischen Präfix con- „mit-“, „zusammen-“ und notatio „Anmerkung“
https://de.wikipedia.org/wiki/Konnotation
Danke für ein neues Wort und danke für eure Arbeit und den Artikel 😉